Leseprobe aus „Anhang: Epoche der Geister
(1848 – 1940)“
Etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwich der Geist aus der Flasche und sollte fast ein ganzes Jahrhundert das Fundament des Christentums erschüttern. Jeder Versuch christlicher Würdenträger, den Geist in die Flasche zurück zu scheuchen, erhöhte die magische Attraktivität des Spiritismus, der vor allem in den angelsächsischen Regionen Menschen aller Bildungsschichten aus den Kirchen in die Logen medial begabter Seher trieb.
Die Geschwister Fox, Hydesville, Maine ca. 1850
Seance 1920, Photo: William Hope (1863 – 1933)
Der spiristische Tsunami nahm seinen Anlauf in Neu-England, wo drei Schwestern behaupteten, mit Geistern von Verstorbenen in Kontakt zu stehen. Millionen von geistgläubigen Menschen nahmen in den folgenden Jahren regelmäßig teil an Seancen, in denen sich die Geister über Medien mittels Klopfgeräusch, mit automatischem Schreiben, direkt akustisch aus dem medialen Mund oder durch Materialisationen äußerten. Kein Tag verging, in dem die Sensationspresse nicht über wundersame Seancen oder Machenschaften betrügerischer „Medien“ berichtete.
Der Geist des Spiritismus stiftete nicht selten Zwietracht im Familienleben, etwa wenn er oder sie aus spirituellen Gründen das obligatorische Tischgebet verweigerte. Eine prominente familiäre Disharmonie entstand auch im Hause des Dichterehepaars Browning.
Elisabeth Browning (1806 – 1861)
Robert Browning (1812 – 1889)
Sie, Elisabeth Browning, war begeisterte Spiritistin, was ihn, Robert Browning, dazu bewegte, „Mr.Sludge, The Medium“ zu schreiben; darin prangert er die Praktiken eines mediumistischen Scharlatans an. Gemeint war damit der legendäre Daniel Douglas Home.
Daniel Douglas Home (1833 – 1886)
Daniel Douglas Home, dessen Seancen das Publikum mit mysteriösen Geräuschen, leuchtenden Erscheinungen und der Aufhebung der Schwerkraft faszinierte, gastierte unter anderem am Hofe Zar Alexanders II und Napoleons III. Es wurde berichtet, dass der äußerst skeptische Fürst Metternich überraschend die Szenerie stürmte, um versteckte Hilfsapparate zu suchen – vergeblich, was der Seance-Tisch zum Vergnügen des erlauchten Publikums mit Klopfgeräuschen ironisch kommentierte.
Home schwebt am 8. August 1852 vor Zeugen
Zeichnung, veröffentlicht 1887 in „Les Mysteres de la Sience“
Home, der in Rom als Hexer unerwünscht war, ermunterte immer wieder Wissenschaftler und Trickkünstler, seine Seancen peinlich genau zu kontrollieren. -
Er wurde nie des Betrugs überführt. Für seine Auftritte forderte er kein Honorar, seinen Lebensunterhalt bestritt er ausschließlich mit freiwilligen Spenden. Befragt nach dem Motiv seiner Tätigkeit antwortete er: „Meine Mission ist die Demonstration der Unsterblichkeit.“
Was bedeutete die spiritistische Welle das für die religiöse Welt?
Wie reagierten die intellektuellen Agnostiker, die sich soeben als geistige Erben Charles Darwins völlig aus religiöser Enge befreit hatten?
Letztere hatten mit dem Spiritismus kein Problem: Das sei der neue Aberglaube, Hokuspokus - wer okkulte Phänomene wissenschaftlich überprüfen wolle, reihe sich ein in die Gruppe der naiven, geistgläubigen Trottel. Dies beklagte der Psychiater Dr. A. Freiherr von Schrenck-Notzing in seinem Buch „Materialisationsphänomene“ (Verlag Ernst Reinhard, München,1914):
„Die Beschäftigung mit den im Misskredit stehenden so genannten spiritistischen Erscheinungen hat heute noch gewisse Nachteile für den betreffenden Forscher zur Folge. Nicht nur, dass man ihm Beobachtungsfähigkeit, kritische Besonnenheit und Glaubwürdigkeit abzusprechen pflegt und ihn durch den Vorwurf des Scharlatinismus der Lächerlichkeit preisgibt, so zum Beispiel den verstorbenen Kriminalanthropologen Lombroso, sondern er läuft auch Gefahr, für geistig minderwertig, wenn nicht direkt für geisteskrank zu gelten, wie es dem Astronomen Zöllner und dem englischen Physiker Crookes geschehen ist.“
Trotzdem wagten zahlreiche hochdekorierte Wissenschaftler die seriöse Auseinandersetzung mit dem Spiritismus und die umfangreiche Mitgliederliste der Society of Psychical Research beweist, dass auch Nobelpreisträger in den Bann der Geisterwelt gerieten.
Die monotheistischen Glaubensrichtungen jüdisch-christlicher Tradition hatten allerdings Schwierigkeiten bei der Bekämpfung des des Virus Spiritismus, denn sie selbst waren und sind Virus-Träger.
Der alte jüdische Glaubensstamm löste das Problem per Verbot. Renée Haynes, Herausgeberin der Zeitschriften der Society for Psychical Research beschreibt den unbeirrten Weg der geistigen Führer Israels: „Sie übermittelten Generationen den Befehl, nicht auf Magie zurückzugreifen, noch Hellseher oder Medien zu befragen, die von sekundären Persönlichkeiten kontrolliert würden. Die Frage, ob die (medialen) Informationen, die man bekäme, richtig seien oder nicht, erhebe sich nicht. Es war verboten, „zum Zauberer zu gehen“, oder „die Wahrsager um etwas zu bitten“, einfach, weil geschrieben steht „Ich bin der Herr dein Gott.““
Der jüngere monotheistische Glaubenszweig, das Christentum, hatte angesichts seiner Trinität „Vater, Sohn, Heiliger Geist“, seiner diesseits wirksamen Heiligen und seiner mächtigen Engel große Schwierigkeiten, der okkulten Welle unbeschadet zu entkommen, die Oberhoheit über die Welt der Geister zu behaupten. Die christlichen Konfessionen, vor allem die römisch-katholische Kirche, konnte das Desaster mit dem Hinweis darauf abmildern, dass christliche Priester unter den Geistern die teuflischen Varianten identifizieren könnten.
Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass es in jener Epoche auch einen „Hybrid-Spiritismus“ gab in Gestalt von Menschen, die Seancen praktizierten, ohne das traditionelle Glaubensbekenntnis aufzukündigen – eine wunderbare Strategie zur Vermeidung der kirchlichen Ächtung. Eine herausragender Hybrid-Spiritist war J. Godfrey Raupert, ein zum katholischen Glauben konvertierter Geistkundler.
Sein Spezialgebiet war der photographische Beweis der Materialisation von Geistwesen. Mit geisterhaft belichteten Photographien ging er auf Vortragstournee; gleichzeitig bot er sich der Kirche als Berater an, als geistkundiger Experte. Er berichtet über eine höchst befremdliche Begebenheit. Er bekam Besuch eines jungen Mannes, bei dem die Ärzte eine beginnende Erblindung diagnostiziert hatten. Auf Rat von Freunden suchte er Hilfe bei einem Medium, der dem Augennerv in drei Seancen Lebenskraft zuführen wollte.
Er berichtete Raupert das erstaunliche Ergebnis:
„Das wunderbare an der Sache ist, dass meine Sehkraft sich auf erstaunliche Weise gebessert hat, was schon daraus hervorgeht, dass ich ohne Begleitung meinen Weg zur Eisenbahn und zu ihrer Wohnung gefunden habe. Mit dieser Besserung indes hat sich ein Zustand eingestellt, den ich mir nicht erklären kann und der etwas schwer zu beschreiben ist. Mein ganzes religiöses Leben und Denken, in dem ich bisher meine größte Befriedigung und meinen Trost gefunden habe, hat eine gänzliche Veränderung erfahren. Ich habe alles Interesse an religiösen Dingen und, wenn ich aufrichtig sein soll, selbst meinen Glauben an die christlichen Wahrheiten verloren.“
Der erzkatholische Spiritist verteidigt nun die christlichen Wahrheiten:
„Ich erzählte ihm hierauf von meinen Erfahrungen auf diesem Gebiet und sagte ihm ganz offen, dass er wahrscheinlich zwischen seinen Augen und seiner Religion zu wählen haben würde, dass er sich früher oder später dieser Entscheidung nicht würde entziehen könnte....Der bedauernswerte Mann verließ mich mit der Versicherung, dass er den Mut zu finden hoffe, den besseren Weg einzuschlagen. Im Laufe einiger Tage besuchte er mich wieder, diesmal begleitet von einem jüngeren Freund. Er war gänzlich erblindet.“
Und so kehrte ein verirrtes Schäfchen an der Schwelle psychosomatischer Genesung zurück in die Dunkelheit des „wahren Glaubens“.
Den kirchlichen Segen holte sich Raupert im nachhinein.
„Ich legte diesen Fall einem mir nahe stehenden und gelehrten Theologen in Rom vor. Er sagte kurz und knapp: „Ja! Das ist Maleficium. Die Kirche kennt das Phänomen sehr gut. Wir werden in der nächsten Zeit noch von vielen solchen Fällen hören!“
Raupert gelingt es nicht, den Bedeutungsschwund der darbende Kirche abzumildern. Die Abwertung religiöser Überzeugungen in der Epoche der Geister wird deutlich, wenn der begeisterte Spiritist Sir Arthur Conan Doyle mit herablassender Toleranz geradezu mitleidig notiert:
„Auch darin stimmen alle Botschaften (aus dem Jenseits) überein, dass kein religiöses Glaubensbekenntnis hier auf Erden dem Bekenner dort im Jenseits Vorteile bringt. Der persönliche Charakter, allein die Stufe irdischer Entwicklung – sie bedeuten alles. Glaubensbekenntnisse, die das Gebet fördern und die Augen nach oben richten, sind wertvoller, als diejenigen, welche die Augen im Staube halten. Also in diesem Sinne, als Stufe zum geistigen Leben – und in keinem anderen Sinne – hat jede Glaubensform ihren Wert für den Einzelnen. Wenn der Tibetaner beim Schwirren eines metallenen Zylinders bekennt, dass ein höheres Wesen existiert als seine Berge, so ist das gut. Wir dürfen in solchen Dingen keine zu pedantischen Kritiker sein.“
In den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts, wohl unter dem Eindruck des 2. Weltkriegs, ging der Spuk dem Ende entgegen.
Vom spirituellen Tsunami blieb nur eine kleine Esoterik-Welle übrig, die bei den etablierten, konfessionell lizenzierten Hütern der anerkannten Geister gelegentlich nicht mehr als ein Stirnrunzeln bewirkt. - Der Geist des Spiritismus ist wieder in der Flasche und wartet.........