Leseprobe aus „Kartenspiel mit vielen ??? “
Eine Vielzahl von Phänomenen lässt sich nur mit der Existenz einer außerkörperlichen Dimension erklären: z.B. das Tourette-Syndrom (Krampfartige Attacken mit Herausschleudern von mitunter aggressiv-obszönen, wesensfremden Inhalten), die Transsexualität, bei der das Individuum in einem falschen Körper lebt, die Schizophrenie, Typ Paranoia ...
Ein Ausschnitt:
Jan legt die Karteikarte Tourette-Syndrom neben die Karte Transsexualität und erinnert er sich an d e n Mathematiker unter den Psychologen, an Hans Jürgen Eysenck, einen britischen Psychologen deutscher Herkunft. Eysenck war Pionier der Verhaltenstherapie und Persönlichkeitsforscher, der die Begriffe Extraversion und Introversion wissenschaftlich untermauert hat. Für die Traditionalisten in der Psychologie war er ein Querdenker ohne Ehrfurcht vor dem, was sich nicht mathematisch-statistisch erhärten ließ.
Ausgerechnet Eysenck richtete sein Interesse auf die Parapsychologie, und er, der Spezialist für wissenschaftliche Methodik, bescheinigte Helmut Schmidt, dem Experimentator mit dem Zufallsgenerator, die tadellose Qualität seiner Beweise für die Existenz von Präkognition und Psychokinese. Eysenck beschäftigte sich mit vier Vermutungen:
- Vermutung: Hohe Intelligenz hemmt paranormale Fähigkeiten.
- Vermutung: Tiere haben ein höheres Psi-Potential als Menschen.
- Vermutung: Pflanzen haben paranormale Empfindungen.
- Vermutung: Geisteskranke haben überdurchschnittliche paranormale Fähigkeiten.
Vor allem Vermutung 3 sorgte seinerzeit für Aufregung, weil man mit empfindlichen Apparaten gemessen haben wollte, dass Pflanzen reagieren, wenn andere Pflanzen vernichtet und Tiere getötet wurden.
Die Vermutungen eins bis drei verwies Eysenck vorläufig ins Reich der Legenden, weil die wissenschaftliche Methodik zu ungenau oder fehlerhaft war.
Die vierte Vermutung interessierte ihn mehr als die anderen: Haben Geisteskranke, Menschen, die an Wahnvorstellungen leiden, einen ausgeprägten Zugang zum Paranormalen. Schizophrene Patienten haben immer wieder berichtet, dass sie von telepathischen Botschaften infiltriert werden. Forschungsarbeiten mit Schizophrenen seien, so Eysenck, ethisch äußerst problematisch, und sollten an der Frage scheitern: Darf man Tests mit Versuchspersonen durchführen, die zutiefst unglücklich und gestört sind?
Jan schaut wieder auf die Karten Tourette-Syndrom und Transsexualität und denkt:
Da kommt etwas von draußen rein und gelangt an einen Ort, wo es nicht hingehört. Eysenck wollte wissen, ob Geisteskranke erhöhte Psi-Fähigkeiten haben, wollte wissen ob sie leichter in eine andere Dimension eindringen können.
Jan klopft mit dem Finger an seine Schläfe – das Gegenteil ist der Fall, Psychotiker, Patienten mit Wahnvorstellungen, wollen nicht irgendwo eindringen, sie wollen sich abschotten, verteidigen gegen eindringende Identitäten aus einer anderen Dimension.
Jan befindet sich gedanklich wieder im Hörsaalgebäude der Psychiatrischen Universitätsklinik.
Eine Pflegerin führt eine junge Frau in den Hörsaal. Nach kurzer namentlicher Vorstellung bittet sie der Professor um eine Schilderung ihrer Situation. Wir, die Studenten erfahren, dass sie die Tochter eines Grafen sei, und dass sie nach dem Tode ihrer Eltern nicht mehr in das elterliche Schloß zurückkehren könne, weil ein Schwager die Legitimität ihrer Geburt anzweifle. All dies erzählt sie melancholisch lächelnd, in der Gewissheit, dass letztlich die Wahrheit obsiegen werde.
Jan hatte keine Schwierigkeiten, diese Psychose inhaltlich zu deuten.
Die junge Frau lebt in der Traumwelt eines Lore-Romans, aus der sie nicht in die Wirklichkeit zurückkehrt. Die Lektüre von Liebesromanen ist Teil ihrer Biographie.
Ihre Erlebniswelt läßt sich leicht nachempfinden, denn sie scheint lediglich die krankhafte Übersteigerung des ganz normalen Alltags zu sein. In unserer “ganz normalen Welt” wimmelt es ja auch von ganz normalen “Prinzessinnen ”, ganz normalen “Supermännern”, ganz normalen “Salon-Cowboys”- der Unterschied des Illusionsgrades bei den normalen Stars und der “gräflichen” Patientin scheint nur ein gradueller zu sein.
Der Wahrheit und der Vollständigkeit halber soll nicht unerwähnt bleiben, dass Jan Helmer, wenn ihm jemand sagen würde, seine herausragende wissenschaftsjournalistische Arbeit verdiene mindestens den Pulitzer-Preis, dass Jan dann dieses Kompliment nur halbherzig, mit zeitlicher Verzögerung, mit geröteten Ohren, also mit schlecht vorgetäuschter Bescheidenheit zurückweisen würde.
Zurück zum Psychiatrie-Hörsaal. Dramatisch und völlig unverständlich war für Jan der Fall eines 45-jahrigen Patienten.
Dieser wird gegen seinen Willen in den Hörsaal gedrängt und weigert sich, Platz zu nehmen. Zwei kräftige Pfleger versperren ihm den Fluchtweg aus dem Saal.
Er beschuldigt den Professor, ein harmlos getarnter Dämon zu sein. “Sie können alles mitschreiben”, ruft er einem Studenten in der ersten Reihe zu und wendet sich Hilfe suchend an das Auditorium. Die ausbleibende Reaktion des Publikums, die peinliche Stille erzeugt Panik in ihm, er wiederholt seinen Fluchtversuch, der von den Pflegern vereitelt wird.
Der Professor nickt in Richtung der Pfleger, die nun den Patienten hinaus führen. “Sie haben soeben die akute Phase einer Psychose, Typ Paranoia, beobachten können”,
sagt der Professor und doziert über die Möglichkeiten, die Symptome medikamentos zu dämpfen. Er spricht über die Prognose des Krankeitsverlaufs. Bei einer sich im Laufe der Jahre langsam steigernden Symptomatik, seien die Genesungschancen gering; ein plötzlich auftretender, unvorhergesehener Schub, wie in diesem Fall, habe dagegen eine günstigere Prognose, es könnte sich dabei um ein singuläres, alptraumähnliches Ereignis handeln. Die Ursachen seien aber in jedem Fall biochemische Entgleisungen im Zentralnervensystem und die Frage, warum gerade dieser Patient davon betroffen sei, könne man zu diesem Zeitpunkt nicht beantworten.
Gut und schön – die Hirnstoffwechsel-Theorie wird man nicht bezweifeln wollen, aber wie kann man den Inhalt der wesensfremden Psychose erklären? Woher kommt die panische Angst des Patienten vor der psychischen Invasion einer heimtückischen, fremden Macht?
All das ist wesensfremd, ist alles andere als ein Wunschtraum, es ist der Versuch einer verzweifelten Abwehr.
Peter Büchler: „Wahn“, Öl auf Holz und Stoff
www.malerei-und-fotografie.de
Jan schiebt noch einmal die Karten hin und her und heftet zuletzt seinen Blick auf die Karte
Modell kann Intensität von biographischen Gedächtnisinhalten nicht erklären (Externes Speichermedium?)
Plötzlich tanzen alle Karten vor seinem geistigen Auge.
Das physische Gehirn ist nur der Arbeitsspeicher, der mit einem außerkörperlichen Speichermedium interagiert.
Mein Neuronen-Modell, das Zentralnervensystem, das Gehirn ist nur der Arbeitsspeicher, der flüchtige Arbeitsspeicher, der vielleicht nur die Eindrücke über eine begrenzte Zeit speichert. Es muss ein externes, außerkörperliches Speichermedium geben. Das Gehirn speichert physisch Informationen mittels Verdickung der Synapsen, der Nervenverbindungsstellen, entsprechend den Sinneseindrücken. Dieser Arbeitsspeicher kann unmöglich einen ganzen Lebenslauf konservieren, eine Identität, ein Ich aufbauen.
Der Tod vernichtet das Gehirn, den organischen Arbeitsspeicher - wo bleibt die Biographie? Die Identität? Das Ich? Gibt es da eine außerkörperliche, kollektive Festplatte?
Die zweckmäßige Festplatten-Analogie wird Jan in die Irre führen, wenn ich mich jetzt nicht dialogisch einschalte. Jan, hör zu, in dieser Dimension wird die Biographie nicht wie eine Vita für eine Bewerbung gespeichert.
Jan Helmer ... geboren am ... in ... als Sohn des ... Abitur ... Universität ... Diplom ... u.s.w.?
So nicht. Es werden keine Daten gespeichert. Aus meiner Sicht ist die außerkörperliche Biographie eine Komposition von Bedeutungen, von Gefühlen. Die Dimension kannst du ja selbst aktiv anzapfen. Erinnere dich an deine Tagträume, in denen deine Vergangenheit, deine Kindheit lebendig wird.....
In dieser außerkörperlichen, überindividuellen „Festplatte“ sind die Daten der Identität nicht geschützt, es kommt nicht selten zu Übergriffen von fremden Identitäten, vor allem in instabilen Lebensphasen, im Alter des Spracherwerbs und der Pubertät.