Leseprobe aus „?tieZ tsi saW“

Im Gehirn gelten die Gesetze der Quantenphysik, die es gestatten, dass z.B. Ursache auf Wirkung folgt. Ohne die total verrückte Antilogik der Quantenphysik wären ganz alltägliche Phänomene unmöglich: etwa blitzschnelle Sportarten (z.B. Tischtennis) oder die bewusste Aufmerksamkeit (Schwebezustand zwischen Reiz und Reaktion).

Kaffee, Tee oder Wasser – neben trivialen Entscheidungen dieser Art gibt es wichtigere, den weiteren Lebensweg beeinflussende Wahlmöglichkeiten, die manchmal bedrohlich erscheinen. Als die glückliche Latenzzeit in Jan Helmers Leben zu Ende ging, als die Zeit der Neugier und des Wissenserwerbs, als diese stabile Lebensphase vom Hormon- Chaos der Pubertät erschüttert wurde, erwies sich der Schwebezustand der freien Entscheidungen als beängstigend. Was hält mich davon ab, von der Terrasse eines Hochhauses in die Tiefe zu springen? Die Möglichkeit ist real. Ich könnte mich auch vor einen Lastwagen stürzen. Ich könnte eine abscheuliche Untat begehen. Diese Möglichkeiten sind real. Erst nach Festigung der Identität verflüchtigte sich nach und nach die paradoxe Situation „zwanghafter Freiheitsgedanken“.

Etwa eine Woche später wird Jan im Magazin Focus einen Artikel von Werner Siefer lesen, der mit einer Frage beginnt:

„Ist der freie Wille eine Illusion? - Heute schon zu einer Tasse Kaffee gegriffen oder ein Handy eingeschaltet? Egal ob sie es taten oder nicht – der Streit darüber, ob sie frei waren dabei, ist hitzig und füllt mittlerweile ganze Bibliotheken.“

Siefer berichtet über aktuelle neurophysiologische Experimente, bei denen bestimmte Hirnregionen mit Elektroden gereizt wurden, wobei man seltsame Erlebnisse registrierte.

„Die Wissenschaftler entdeckten, dass allein die Reizung einer bestimmten Hirnregion sowohl den Eindruck erwecken konnte, sich bewegen zu wollen als auch sich bewegt zu haben – und zwar völlig unabhängig von der tatsächlichen Bewegung.“

Zu Beginn seines Beitrags geht Siefer auf ein historisches Experiment ein, das auch Jan bekannt ist.

„Ausgelöst wurde die Diskussion über die menschliche Willensfreiheit – unter anderem – durch das so genannte Libet- Experiment. In den frühen 80er-Jahren stellte der USPhysiologe Benjamin Libet in Experimenten fest: Im Gehirn ist die Aktivität zum Einleiten einer Bewegung deutlich früher zu verzeichnen, als der Besitzer des Gehirns davon erfährt.“

In Kenntnis des Experiments füge ich hinzu: Die Hirnaktivität der Bewegung ging der Hirnaktivität des Entschlusses zur Bewegung voraus. - Unglaublich!

Und jetzt beweist der sonst so kompetente, auf Hirnforschung spezialisierte Wissenschaftsjournalist Siefer, dass man angesichts eines spektakulären Experiments, unbeeindruckt von der tatsächlichen Bedeutung der Ergebnisse, zielstrebig die völlig falschen Fragen stellen kann.

„Ist die Entscheidung zu einer Handlung bereits getroffen, bevor der vermeintliche Urheber davon erfährt? Ist der freie Wille somit nur eine Illusion? Und woher kommt die Intention wenn nicht vom Ich höchst persönlich?“

Siefer ist von der Diskussion um die Willensfreiheit, die Libet angestoßen hat, so gefangen, dass er, ebenso wie Libet selbst, die eigentliche Sensation des Experiments nicht wahrnimmt. Libet hat, ohne es zu wissen, eindrucksvoll experimentell bewiesen, dass im Zentralnervensystem die Gesetze der Quantenphysik gelten. Wir erinnern uns an das neurophysiologisch unmögliche, weil blitzschnelle Tischtennisspiel, das nur deshalb möglich ist, weil die Spieler auf etwas reagieren, was sie eigentlich gar nicht wahrnehmen können. Das Spiel kann nur stattfinden, weil die Spieler vordatierte optische Reize, Informationen aus der Zukunft bekommen.

Welch eine Ironie des Forscherschicksals: Libet, der die Willensfreiheit in Frage stellte, lieferte den experimentellen Beweis für den freien Willen, denn nur im quantenphysikalischen Schwebezustand zwischen Reiz und Reaktion, können freie Entscheidungen getroffen werden.

Jan, der den Focus-Artikel noch nicht gelesen hat, bekommt gleich Unterstützung eines Nobelpreisträgers. Er ist irritiert, irgendwie spürt er, dass er im Bewusstsein, so wie er es versteht, diese schwebende Aufmerksamkeit vor einer freien Entscheidung nicht unterbringen kann. Aufmerkamkeit scheint nicht von Reiz und Reaktion begrenzt zu sein – und Jans materialistisches Neuronen-Modell funktioniert nur per Reiz und Reaktion.

Nach der Rückkehr aus der Küche wird Jan in einem Buch von Sir John C. Eccles blättern. Eccles, der wie kein anderer die Anatomie und die Funktion des Gehirns erforscht hat, bekam dafür 1963 den Nobelpreis. Jan erinnert sich daran, dass Eccles seine Aufmerksamkeit auch auf den freien psychischen Vorgang der Aufmerksamkeit richtete. (Ich erinnere an Jans triviale Entscheidung, in die Küche zu gehen, um Kaffee zu brühen, und an den Vorgang der aufmerksamen Selbstbeobachtung, bei dem er sich Entscheidungsfreiheit attestierte.)

Am Ende seiner Forscherkarriere kam Eccles zu dem Schluss, dass es einen vom Körper unabhängigen Geist geben muss, der virtuos wie ein Pianist die neuronalen Reizmuster des Gehirns aktiviert - der Geist erzeugt Aufmerksamkeit. Jan glaubt, dass diese Schlussfolgerung auf den schleichenden Beginn von Altersreligiosität zurückzuführen ist, was Sir John C. Eccles energisch bestritten hätte.

Jan hat die Stelle im Buch gefunden.

„Schließlich kommen wir noch zum allerletzten Problem: Was geschieht beim Tode? Dann hört jede Hirntätigkeit für immer auf. Der sich selbst bewusste Geist, der in gewissem Sinne eine automome Existenz geführt hat, stellt fest, dass das Gehirn, das von ihm so wirksam und erfolgreich ein ganzes Leben hindurch abgetastet, sondiert und kontrolliert worden ist, überhaupt keine Botschaften mehr gibt.“

Weitere Buchpassagen verstärken Jans Verdacht, dass Eccles von quasireligiösem Wunschdenken geleitet wurde.

„Die Komponente unserer Existenz in Welt 2 (das ist die Welt des sich selbst bewussten Geistes) ist nicht materieller Art und braucht daher beim Tod des Menschen nicht der Auflösung unterworfen sein.......Von der Zeit der frühesten Religionen an ist die Idee der Unsterblichkeit durch die vielen Versuche, ihr eine sich auf die Ideologien der jeweiligen Epoche stützende Begründung zu geben, besudelt und sogar lächerlich gemacht worden. Infolgedessen fühlen sich heutzutage viele Intellektuelle und sogar religiöse Intellektuelle durch diese archaischen Versuche abgestoßen, das Leben nach dem Tod des Körpers zu beschreiben und auszumalen. Auch ich fühle mich abgestoßen. Aber ich glaube, dass es da ein unbegreifliches Geheimnis gibt.......

Ist es nun wirklich so, dass dieses unser Leben einfach nur eine kurze Bewusstseinsepisode zwischen zwei Vergessenheitsperioden ist, oder gibt es irgendeine weiterreichende, transzendente Erfahrung, von der wir nicht wissen können, bevor sie uns zuteil wird?“

Hat Jan Sir John C. Eccles unrecht getan - mit dem Verdacht auf Altersreligiosität? War es vielleicht Altersweisheit?

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