Leseprobe aus „Jenseits des Spiegels“
Die jenseitige Dimension existiert in der „Welt hinter dem Spiegel“ (Lewis Carroll: Alice im Wunderland). Es gibt eine überraschende Gemeinsamkeit von Mathematik (Geheimnis der Primzahlen), drogeninduzierten Halluzinationen und dem „Savant-Syndrom“ (unerklärliche Höchstleistungen in Zahlenwelt). Ausschnitt aus dem Kapitel „Jenseits des Spiegels“
Was geschieht, wenn die physische Existenz beendet ist? Werden sich dann die Pforten öffnen – Pforten in die unbeschreiblich objektive Dimension hinter dem Spiegel, in der Zeit nicht existiert?
Zurück in die Gegenwart Jan Helmers, der das Buch des genialen Autisten Daniel Tammet liest.
Noch vor der Schulzeit gab es im Leben Daniel Tammets ein einschneidendes Ereignis.
„Ich saß auf dem Wohnzimmerboden, als es geschah. Ich war vier Jahre alt und saß dort mit meinem Bruder Lee, während mein Vater in der Küche das Abendessen zubereitete.
In diesem Alter war es nicht Ungewöhnliches, dass ich Momente völliger Losgelöstheit erlebte; in solchen Phasen untersuchte ich zum Beispiel in totaler Selbstversunkenheit die Linien meiner Handflächen oder beobachte die Bewegungen meines eigenen Schattens, während ich in langsamen, rhythmischen Bewegungen vor-und zurückschaukelte. Doch dies war etwas anderes, eine ganz neue Erfahrung, als ob der mich umgebende Raum auf allen Seiten vor mir zurückwiche und das Licht aus ihm heraussickerte und sogar der Fluss der Zeit sich verdichtete und zu einem einzigen langen, verbleibenden Moment ausstreckte. Ich wusste nicht und konnte zu jenem Zeitpunkt nicht wissen, dass ich einen schweren epileptischen Anfall hatte.“
Der Anfall war lebensgefährlich und Daniel musste mehrere Tage in der Klinik verbringen. Er vermutet, dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen seiner Temporallappen- Epilepsie und der Entstehung seines „Savant-Syndroms“, seiner außergewöhnlichen Begabung, gibt. Tammet verweist darauf, dass auch Fjodor Dostojewski Epileptiker war und seine Anfallserlebnisse literarisch verarbeitet hat.
„Mehrere Augenblicke lang erlebe ich ein Glücksgefühl, das im normalen Zustand unmöglich ist und von dem andere Menschen keine Vorstellung haben. Ich fühle mich gänzlich im Einklang mit mir selbst und mit der ganzen Welt, und das Gefühl ist so stark und so süß, dass man für einige Sekunden dieser Glückseligkeit zehn Jahre seines Lebens, vielleicht sogar sein ganzes Leben hergeben würde.“
Tammet vermutet, dass auch der Epileptiker Lewis Carrol seine Erkrankung literarisch umgesetzt hat. Der Sturz von „Alice im Wunderland“ in einen tiefen Schacht erinnert ihn an die Beschreibung eines epileptischen Anfalls.
„Alice (konnte) gar nicht mehr überlegen, ob sie vielleicht besser stehen bleiben sollte. Sie stürzte einfach hinunter in einen sehr tiefen Schacht...“Immerhin“, dachte Alice, „nach diesem Sturzflug wird es mir nie wieder etwas ausmachen, irgendwo eine Treppe hinunterzufallen“...Tiefer, tiefer, tiefer. Würde der Sturz denn niemals aufhören.“
Jan hat in Tammets Buch einige Passagen markiert, weil er das Gefühl hat, dass es eine unerwartete Verbindung zwischen räumlich und zeitlich weit auseinanderliegenden Ereignissen geben könnte.
„Ich erinnere mich, dass ich immer wieder wie gebannt den rieselnden Strom der Sandkörner beobachtete, ohne die spielenden Kinder um mich herum zu bemerken....“
Am folgenden Tag wird Jan noch einmal in einem Essay blättern, den Aldous Huxley unter dem Eindruck seiner Meskalin-Exkursion geschrieben hat. Er findet dort ein Zitat, in dem der irische Dichter George William Russel ein seltsames Erlebnis beschreibt:
„Ich saß am Meeresufer und hörte nur halb einem Freund zu, welcher mir heftig etwas zu beweisen suchte, was mich bloß langweilte. Ohne mir dessen bewusst zu sein, blickte ich auf eine dünne Schicht müßig aufgegriffenen Sands auf meiner Hand, als ich plötzlich die erlesene Schönheit jedes einzelnen Körnchens sah; ich sah, dass jedes Teilchen, statt matt zu sein, nach einem vollkommenen geometrischen Muster gebildet war, mit scharfen Ecken, die jede einzelne einen leuchtenden Lichtstrahl zurückwarf, während jedes einzelne winzige Kristall wie ein Regenbogen leuchtete...Die Strahlen kreuzten einander und bildeten ein erlesenes Muster von solcher Schönheit, dass sie mir den Atem raubte.“
Diese unbeschreibliche Faszination eines scheinbar trivialen Details hatte Huxley ebenfalls während seines Drogenexperiments erlebt.
Zurück zu den Erinnerungen Daniel Tammets:
„Eine weitere Erinnerung an meine ersten Monate in der Kindertagesstätte betrifft die unterschiedliche Beschaffenheit des Fußbodens – einige Teile waren mit Matten, andere mit Teppich bedeckt.
Ich erinnere mich, dass ich mit gesenktem Kopf langsam umherging, die Augen fest auf die Füße gerichtet, während ich die verschiedenen Teile des Fußbodens abwanderte und die Sinneseindrücke unter meinen Fußsohlen registrierte.“
Tammet ist fasziniert von der Zahl Pi, deren Stellen hinter dem Komma er fast unendlich weit „berechnen“ könnte – aber Tammet rechnet nicht.
„So „sehe“ ich die ersten zwanzig Zahlen von Pi: Die Zahl steigt nach oben, verdunkelt sich dann und wird in der Mitte uneben, bevor sie sich biegt und nach unten schlängelt. Und hier sind die ersten Hundert Ziffern von Pi: Am Ende jedes Zahlenabschnitts verändert sich die Landschaft und neue Formen, Farben und Strukturen tauchen auf. Dieser Prozess setzt sich immer weiter fort, solange die Zahlenfolge, an die ich mich erinnere, andauert.“
Jan assoziiert den Faltenwurf des Gewandes von Botticellis Judith, auf den Aldous Huxley wie gebannt gestarrt hat, als er nach seiner Meskalin-Exkursion in die Realität zurückkehrte. Gleich wird sich Jan wieder an diese Assoziation erinnern. Zunächst aber geht es um einen Rekordversuch Tammets.
Die Zahl Pi, Schlüssel zur Quadratur des Kreises, Drei Komma und danach folgen unendlich viele Zahlen. Daniel Tammet stellte sich einem wissenschaftlich kontrollierten Rekordversuch. Im ehrwürdigen Museum für Wissenschaftsgeschichte in Oxford memorierte er 5 Stunden und 9 Minuten fehlerfrei 22.514 Ziffern von Pi.
„In dem Saal herrschte nahezu vollständiges Schweigen, abgesehen von einem seltenen gedämpften Husten oder dem Klang von Schritten, die sich von einer Seite des Saales zur anderen bewegten. Die Geräusche störten mich nicht, denn während ich die Zahlen aufsagte, spürte ich, wie ich in dem visuellen Fluss von Farben und Formen, Strukturen und Bewegungen aufging, bis ich ganz von meinen numerischen Landschaften umgeben war.“
Tammets Rekord fand ein weltweites Medienecho und immer wieder wurde er gefragt: Mister Tammet, warum tun sie das? Was ist ihr Motiv?
„Meine Antwort darauf lautete damals wie heute, dass Pi für mich etwas ungeheuer Schönes und absolut Einmaliges ist. Wie bei der Mona Lisa oder einer Mozart-Symphonie liegt der Grund, warum man Pi liebt, in der Sache selbst.“
Jan kehrt zurück zur Querverbindung zwischen Huxleys Wahrnehmung des Faltenwurfs und Tammets Fixierung auf ein scheinbar banales Detail.
Tammet:
„Eine weitere Erinnerung an meine ersten Monate in der Kindertagesstätte betrifft die unterschiedliche Beschaffenheit des Fußbodens – einige Teile waren mit Matten, andere mit Teppich bedeckt. Ich erinnere mich, dass ich mit gesenktem Kopf langsam umherging, die Augen fest auf die Füße gerichtet, während ich die verschiedenen Teile des Fußbodens abwanderte und die Sinneseindrücke unter meinen Fußsohlen registrierte.“
Huxley:
„Dies war etwas, was ich schon gesehen hatte – an diesem selben Vormittag gesehen hatte – zwischen den Blumen und den Möbeln, als ich zufällig hinab blickte und dann willentlich und leidenschaftlich weiter auf meine gekreuzten Beine schaute. Diese Falten in meiner Hose – welch ein Labyrinth endlos bedeutsamer Vielfältigkeit! Und das Gewebe des grauen Flanells – wie reich, wie tief bedeutsam und geheimnisvoll und üppig! Und hier waren die Falten abermals, hier in Botticellis Gemälde.“
Gibt es etwas Banaleres als die Falten der eigenen Hose, hätte wohl Cezanne gedacht, dessen Selbstportrait Huxley zum Lachen reizte, das für ihn zum Symbol wurde, zum Symbol für die Banalität, die Geschwätzigkeit vor dem Spiegel. Doch in der Welt hinter dem Spiegel ist der Faltenwurf Teil der dynamischen Geographie, in der sich die Primzahlen zu einem Muster wunderbarer Ordnung formieren.
Das Meskalin-Experiment hat die Wahrnehmung des kunstsinnigen Aldous Huxley verändert. Schönheit existiert außerhalb der banalen Realität.
Zum Beispiel den Portraits von Vermeer van Delft fehle die Geschwätzigkeit, denn, so Huxley, sie seien Stilleben.
Jan findet in einem von Lenas Kunstbüchern das wohl bekannteste Portrait Vermeers.
Die Portraits Vermeers,, so Huxley, seien Stilleben, aber: „Vermeer verlangte von seinen Mädchen nie, sie sollten wie Äpfel aussehen. Im Gegenteil, er bestand darauf, dass sie bis zum äußersten Mädchen seien. Sie durften sitzen oder ruhig dastehen, aber niemals kichern, niemals Verlegenheit zeigen, niemals fromm die Hände falten oder nach dem abwesenden Liebenden schmachten, niemals schwatzen, niemals neidisch auf anderer Frauen Neugeborene blicken, niemals flirten, niemals lieben noch hassen noch arbeiten. Hätten sie etwas dergleichen getan, wären sie zweifellos intensiver sie selbst geworden, hätten aber aus eben diesem Grund aufgehört, ihr göttlich wesentliches Nicht-Selbst zu offenbaren.“
Eben diese Geschwätzigkeit des Augenblicks, die Vermeer bei seinen Portraits vermeidet, das Eingespanntsein zwischen Reiz und Reaktion, irritiert und ängstigt den Autisten Daniel Tammet.
Selbstvergessenheit, Absichtslosigkeit hatte Jan auch im Gesicht von Kerstin gesehen, damals während seines Jugendurlaubs in Cala Figuera, als er Kerstin, die aus einem Traum nicht mehr zurückgekehrt war, im Wechsel mit anderen Hotelgästen rund um die Uhr bewacht hatte.
Diese Abwesenheit von Ich-Bezogenheit sieht Huxley auch in den Gemälden eines genialen Malers der Frührenaissance, der auch Mathematiker war, geschätzt als Theoretiker für Proportionen und Raumdarstellungen.
„Stoische Abgeklärtheit enthüllt sich in den glatten Flächen, den breiten, ungequälten Falten der Gewänder Pieros della Francesca.“
Der üppige Faltenwurf verwandelt die Gesicher und Musikinstrumente in dekorative Accessoirs.
Jan schließt den Bildband aus Lenas Bibliothek und erinnert sich an das Novalis-Zitat, das Albert Hofmann an den Anfang seines Buches „LSD-Mein Sorgenkind“ gestellt hat:
„Wir träumen von Reisen durch das Weltall: Ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht.“
Huxley dagegen präsentiert sich als Anti-Romantiker, der das Pädagogengeschwätz im Echo seiner Schulzeit ignoriert. Es ist wohl so, dass der Mensch mit seinem ganz normalen Narzissmus gern bereit ist, in sich hineinzuschauen, um selbstgefällig die große Wahrheit zu finden.
Die meisten Religionen, so Huxley, bedienen dieses Bedürfnis, versprechen die Illusion, Ebenbild Gottes zu sein und verhindern so die Wahrnehmung der wunderbaren, unfassbar schönen Objektivität, lenken den Blick ab, von dem, was sich hinter dem Spiegel der Riemannschen Vermutung verbirgt.
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Hinter dem Spiegel formieren sich die chaotisch verteilten Primzahlen zu einer dynamischen Harmonie, hinter dem Spiegel entfalten sich Farben und Formen, die sich der sprachlichen Beschreibung entziehen. Aldous Huxley kehrt aus dieser drogeninduzierten Welt zurück in die Welt vor dem Spiegel, deren zeitabhängige Realität ihm nun banal und lächerlich erscheint. Für Daniel Tammet, dessen Rechenleistungen neurophysiologisch nicht erklärt werden können, ist unsere reale Welt unberechenbar und bedrohlich. Der Drogenkonsum Huxleys und der schwere epileptische Anfall Tammets haben eine physiologische, Raum und Zeit ordnende Filterfunktion im Zentralnervensystem geschwächt – es öffnete sich eine Wahrnehmungspforte in die Welt jenseits des Spiegels.